Zentrale Orte. Transfer als "Normalisierung"
DOI:
https://doi.org/10.14288/acme.v15i1.1080Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Rückwirkungen der internationalen Aufnahme und englischsprachigen Übersetzung des Zentrale-Orte-Modells für Raumforschung und Landesplanung in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1965 ist die Förderung von zentralen Orten ein gesetzlich kodifiziertes Ziel staatlicher Landesplanung in der Bundesrepublik. Für Forscher und Raumplaner in Deutschland war die internationale Aufnahme von Christallers Arbeit aus dem Jahr 1933 keine Vorbedingung für die Beschäftigung mit diesem Modell. Trotzdem hat die internationale Aufnahme der Christallerschen Zentrale-Orte-Konzeption Rückwirkungen auf die Raumplanung in der Bundesrepublik gehabt: Die internationale Akzeptanz des Zentrale-Orte-Systems diente Vertreterinnen und Vertretern der Raumplanung in Deutschland als Argument, um die Anwendung der Modellvorstellung in der Raumplanung des NS-Staates auszublenden. In Rekurs auf die internationale Aufnahme der Zentrale-Orte-Methodik wurde seit Mitte der 1960er Jahre behauptet, Christallers Überlegungen seien nach ihrer Erstveröffentlichung nicht verstanden, nicht rezipiert und erst über den Umweg über die angelsächsische und skandinavische Forschung in Deutschland bekannt geworden.
Die Untersuchung verdeutlicht an diesem Beispiel die Bedeutung von Transfer und Übersetzung für die "Normalisierung" der Inhalte einer wissenschaftlichen Modellvorstellung im Sinne Thomas Kuhns. Deutsche Planungsexpertinnen und -experten nutzten nach Mitte der 1960er Jahre die durch die internationale Rezeption erzeugte Dekontextualisierung der Arbeit Christallers und blendeten die Entstehungs- und Anwendungskontexte des Zentrale-Orte-Modells vor 1945 aus. Statt einer kritischen Beschäftigung mit historischen und inhaltlichen Problemen des Modells wurde ein nachweislich falsches historisches Kontextwissen in die Welt gesetzt. Der Aufsatz spricht diesen Prozess in Fortführung Kuhns als "doppelte Normalisierung" an.
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